Bilder der Unverhältnismäßigkeit – Wer hat das Sagen in der Pandemie?

2021 stand bisher ganz im Zeichen des Abwartens. Ausgangssperre, geschlossene Gastronomie, keine Kulturveranstaltungen. Dazu noch weitgehend schlechtes Wetter. Nun endlich gibt es Lichtblicke. Die “Bundesnotbremse” und ihre Ausgangssperre greift aufgrund stetig sinkender Inzidenzen nur noch in vereinzelten Landkreisen, Gastro und Kultur dürfen schrittweise wieder öffnen und endlich wird es sonnig und warm. Es gibt wieder Hoffnung auf einen entspannten Sommer. Das ist gut und wir freuen uns. Trotzdem möchten wir einen Blick auf das werfen, was die Corona-Krise in den letzten Monaten über unsere Gesellschaft und deren Politik verraten hat. Vieles lief unserer Meinung nach schlecht und sollte sich nicht wiederholen, wenn sich das Infektionsgeschehen wieder verstärkt.

Bilder der Unverhältnismäßigkeit – Wer hat das Sagen in der Pandemie?

Die Pandemie hat unsere Gesellschaft stark verändert. Mit ihr sind aber auch strukturelle Probleme ans Licht gekommen, die schon lange unterhalb der medialen Sichtbarkeit schlummerten. Diese strukturellen Probleme wurden vor allem dort sichtbar, wo Existenzen bedroht waren. Denn genau da zeigte sich, welche Rolle bestimmte gesellschaftliche Akteur*innen spielen und wie viel Macht und Mittel sie zur Verfügung haben. 

Die Kultur- und Kreativwirtschaft wird von den Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung sehr hart getroffen. Und das seit 15 Monaten. Ebenfalls hart trifft es die Tourismusbranche und Flugunternehmen wie die Lufthansa. Weniger existenziell im wirtschaftlichen Sinn, aber dennoch hart hat es auch die Kirchen und Glaubensgemeinschaften getroffen, die nicht mehr für ihre Glaubenspraxen zusammenkommen dürfen. Auch das Bildungssystem, der Profi- und Amateursport sowie große Bereiche der Gemeinnützigkeit leiden unter der Pandemie-Bekämpfung.

Wer hat Macht und Mittel?

© Tim Hufner

Bei all den Maßnahmen geht es um den Schutz von Menschenleben, die durch die Pandemie gefährdet sind. Es ging aber auch darum, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, das durch Privatisierungen unterfinanziert ist und die Krise nur bei einem relativ geringen Infektionsgeschehen unter Kontrolle haben kann. Und obwohl es eigentlich der zentrale Akteur der Krise ist, wurde nur relativ kurz über die Probleme dort geredet. Das zynische Klatschen vom Balkon verhallte schnell. Strukturelle Änderungen und Verbesserungen wurden bisher kaum vorgenommen. Die wirklich großen Geldsummen wurden stattdessen für die Rettung der Wirtschaft locker gemacht.

Es soll hier aber gar nicht so sehr um die finanziellen Hilfen oder das Gesundheitssystem gehen. Dass der Bund anstandslos 9 Milliarden Euro für die Lufthansa locker gemacht, die Kultur- und Kreativbranche – stand jetzt – nur insgesamt 4,5 Milliarden bekommen wird, ist bekannt. Die Unverhältnismäßigkeit liegt auf der Hand, auch wenn hier natürlich bezüglich der unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund und Ländern differenziert werden muss.

Hier soll es mehr um die Unverhältnismäßigkeit gehen, die uns auf so unterschiedlichen Bildern aus verschiedenen Branchen erreicht haben. So wie ein Gottesdienst im Kino, während dieses geschlossen ist und keine Filme zeigen darf. Oder die seit 15 Monaten nicht bespielten Kulturstätten und dicht gedrängte Menschenmasse am Mallorca Flughafen zur selben Zeit. Aber auch die leeren Straßen während der Ausgangssperren in Deutschland und die pulsierenden Musikveranstaltungen in UK.

Die Lobby der Christen

Dass Kirchen während der Krise einen Sonderstatus genießen, wurde in den Diskussionen eines Oster-Lockdowns mehr als deutlich. Geplant und kurzzeitig auch beschlossen waren drastische Maßnahmen. Erstmals sollten sogar Supermärkte an zusätzlichen, sogenannten Ruhetagen schließen. Die Wirtschaft sollte ein paar Tage vollständig ruhen. Wegen logistischer Probleme in der kurzfristigen Umsetzung und wegen massiver Kritik wurde der Oster-Lockdown, kurz nachdem er beschlossen wurde, wieder zurückgenommen. Es war eine Sternstunde der deutschen Corona-Politik.

Abseits dessen war aber vor allem die Behandlung der Kirchen interessant. Denn diese wurden keineswegs gezwungen, ihre Türen geschlossen zu halten, sondern lediglich dazu gebeten. Nicht aufgefordert; gebeten! Doch alleine diese Bitte sorgte von Seiten der Kirchen und sogar in den eigenen Reihen der christlichen Parteien für großes Unverständnis und enorme Kritik. Zusammen mit dem Oster-Lockdown wurde auch diese Bitte zurückgenommen und Merkel entschuldigte sich. Die Interessen der christlichen Kirchen sind nicht nur stark in der Politik vertreten, tatsächlich verschwimmen hier die Grenzen zwischen Politik und Lobby vollständig. Und dann reicht auch schon eine Bitte der Bundeskanzlerin für Empörung.

Mallorca ist nicht Sachsen

Kirche und Kultur erfüllen ähnliche Funktionen der Identitätsstiftung und geben Sicherheit und erzeugen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Glaubenskultur hier anders zu behandeln als Kulturveranstaltungen mag aus einer konservativen Warte her stimmig sein, ist faktisch aber kurzsichtig und unverhältnismäßig. Wer religiös lebt, wird in unserer Gesellschaft klar bevorzugt. Das ist nicht neu. Wenn andere Angebote aber nicht mehr zur Verfügung stehen, gewinnt es eine andere Dramatik und ist ausgrenzend. Filme dürfen im Kino nicht stattfinden, ein Gottesdienst aber schon.

Die dicht gedrängten Menschenmassen am Flughafen von Mallorca erzeugen eine ähnliches Gefühl der Unverhältnismäßigkeit. Denn zur gleichen Zeit war es nicht möglich, in ein anderes Bundesland zu reisen, geschweige denn nach 24 Uhr noch das Haus zu verlassen. Und ob der Besuch einer Veranstaltung im Freien mit Hygienekonzept und Abstandsregeln tatsächlich gefährlicher ist als eine Reise nach Mallorca, sei mal dahin gestellt. Erstere waren untersagt, zweitere war problemlos möglich.

Auch hier lässt sich die Einflussnahme eines politischen Players vermuten. In diesem Fall wohl die Tourismusbranche, die ihre Flugzeuge und Hotels vollkriegen wollte. Anders lässt sich nicht erklären, wieso die Reise nach Sachsen illegal ist, der Flug nach Mallorca aber nicht.

Die Pandemie einfach aussitzen

In England hat mittlerweile eine Reihe an Testveranstaltungen stattgefunden. Insgesamt haben 58.000 Besucher*innen an den Veranstaltungen teilgenommen. Wie The Telegraph berichtet, gab es nur 15 positive Corona-Tests unter den Teilnehmenden. Unter den Veranstaltungen war ein Rave in Liverpool, die BRIT-Awards und der FA-Cup. Das Ergebnis der Studie besagt, dass ein Besuch einer Großveranstaltung nicht gefährlicher sei, als der Besuch in einem Restaurant oder Supermarkt. 

Diese Bilder von ausgelassen feiernden Menschen bei gleichzeitiger nächtlicher Ausgangssperre in Deutschland hat ebenfalls ein Gefühl der Unverhältnismäßigkeit erzeugt. Demnächst soll es auch in Deutschland erste Modellversuche geben, so wie das Pangea-Festival bei Rostock. Vom 19. bis 22. August sollen hier 15.000 Besucher*innen kommen.

Insgesamt agiert die Bundesregierung aber sehr vorsichtig. Sie versucht nicht mit der Pandemie zu leben, sondern sie schlichtweg auszusitzen. Vielleicht gelingt das und wir werden schon bald durchgeimpft zu einer neuen Normalität finden. Vielleicht werden immer neue Mutationen dieses Szenario aber noch hinauszögern. Und was dann? Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown? Absage aller Veranstaltungen? Kirche statt Kultur?

Ohne Lobby geht nichts

Was hinter den verschlossenen Türen der Abgeordneten stattfindet, können wir nur erahnen. Wir bekommen nur die Ergebnisse mit, wie die 9 Milliarden Euro für die Lufthansa oder die Öffnung Mallorcas für deutsche Tourist*innen. Dass hier Lobbyismus eine Rolle spielt, ist aber klar. 

Bestimmte Teilbereiche der Kultur- und Kreativwirtschaft sind inzwischen auch relativ gut organisiert, wie unsere beliebten Beispiele aus Berlin – die Clubcommission und die Berlin Music Commission – zeigen. Auch andere Bereiche der Kreativbranche haben sich während der Krise stärker organisiert und zusammengeschlossen, um mit geeinter Stimme sprechen und fordern zu können. Das ist sicherlich ein positiver Effekt der Pandemie, der sich nachhaltig auf den Stellenwert der Kultur und ihres Wirtschaftszweiges auswirken könnte.

Noch nie wurde so deutlich, wie wichtig eine starke Vertretung der eigenen Interessen in der Politik ist. Die christlichen Kirchen haben dafür gleich ganze Parteien. Die großen Wirtschaftszweige haben mächtige Lobbyist*innen. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist hier mitten in einem Professionalisierungsprozess. Die Pflege hat übrigens keine starke Lobby und Klatschen vom Balkon reicht leider nicht.

 


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