In den letzten Jahren wurde immer wieder über Algorithmen und deren Tendenz gesprochen, unsere digitale Freiheit einzuschränken. Sich darüber klar zu werden, wie Algorithmen unsere Realität beeinflussen, uns gezielt politisieren und selbst rassistisch sein können, ist nicht unbedingt angenehm und Futter für dystopische Zukunftsfantasien. Im Fadenkreuz der Kritik stehen meist die großen Sozialen Netzwerke wie Facebook, Youtube, TikTok oder zuletzt auch Twitter, aber auch politische Institutionen wie die Europäische Union beim Thema Upload-Filter.
Aktuell kursiert wieder ein solcher Vorwurf, der die Algorithmen von Spotify ins Visier nimmt und ihnen eine Einschränkung der Kunstfreiheit unterstellt. Auch das Format “tracks” des deutsch-französischen Kultursenders arte hat sich damit beschäftigt und den Vorwurf in die massenmediale Öffentlichkeit gespült. Das Unternehmen diktiere den Musikschaffenden Arrangement und Struktur der Songs. Denn der Algorithmus bevorzuge kurze Stücke unter drei Minuten ohne Intro, Aufbau und Outro. Wer sich nicht daran hält, findet auf Spotify nicht statt, so der Vorwurf, und das so entstehende “Immergleich” entwerte die Arbeit der Musikschaffenden per se. So weit, so schlecht. Aber kann hier schon von einer Einschränkung der Kunstfreiheit gesprochen werden?
Kunstfreiheit im Anschlag
Spotify steht schon seit dem Launch in 2006 in der Kritik, weil nur sehr wenige Künstler*innen von ihren Streams leben können. Gerade mal 0,28 Cent zahlt die schwedische Firma pro Stream, wovon der Löwenanteil an die Labels und nicht an die Künstler*innen geht. Das Problem ist nicht neu, die faire Bezahlung von Musikschaffenden ist in der Musikindustrie seit je her ein Thema. Im Schnitt erreichen nur 11 Prozent der Einnahmen die Künstler*innen. Im Streaming-Sektor verschärft sich das Problem nochmal deutlich. Mit dem Begriff der Kunstfreiheit im Anschlag wird diese Kritik nun neu ausgerollt.
Der Algorithmus, der den User*innen neue Musik vorschlägt und bestimmte Songs in den Playlists platziert, bevorzugt wie gesagt kurze Stücke zwischen 2:30 und 3:00 Minuten, die idealerweise mit der Hook, also dem Refrain beginnen, um die Hörer*innen gleich ins Highlight des Stückes zu werfen. So sollen diese nicht frühzeitig abschalten, was unbedingt zu verhindern ist. Denn Spotify sieht die Grundlage für eine Abrechnung erst nach 30 Sekunden Spielzeit gegeben. Wird vorher ausgeschaltet, wird der Stream schlicht nicht gezählt. Eine für Musikschaffende als auch für musikalische Vielfalt fatale Mischung. Diejenigen Künstler*innen, die von ihrer Musik leben oder davon leben möchten und an dieser Politik berechtigterweise Kritik üben, sehen sich einem Diktat unterworfen, das ihre kreative Freiheit einschränke.
Streaming ist das neue Radio
Aber auch das ist letztlich kein neues Phänomen, dass neue Medienangebote unterschiedliche Formate bevorzugen oder gar fordern. Kürzere Songs sind keine Entwicklung des Streaming-Zeitalters , sondern sie begann bereits mit dem Radio. Waren Stücke in den 1980ern im Schnitt noch 4:30 Minuten lang, gab es in den 90ern die sogenannten Radio-Edits, die nicht länger als 3:30 Minuten waren und auch heute noch sind. Auch hier wurden Intros und Outros gekürzt oder ganz weggeschnitten und die Hook sehr viel stärker in den Fokus gerückt. Andernfalls werden die Stücke von Radiosendern nicht gespielt; zumindest nicht in der Hauptsendezeit zwischen 6 und 20 Uhr.
Auch Tonträger sind hier nicht ganz unschuldig, auch wenn die Auswirkungen vergleichsweise harmlos und das Folgende eher Fun Facts sind. Eine Schallplatte kann nicht unendlich lang sein und die Tonqualität ist nicht an jeder Stelle dieselbe, da die Rillen zu Beginn noch etwas breiter sein können als am Ende. Es war also klar, die wirklich entscheidenden Stücke eines Albums an den Anfang zu setzen, um die Hörer*innen gleich zu Beginn mit dem besten Sound abzuholen und zum Kauf zu bewegen.
Und als die CD auf den Markt kam, war auch deren Fassungsvermögen eine Entscheidung des damaligen Vizepräsidenten der Firma Sony, die auch hätte anders ausfallen können. Norio Oga wollte der Legende nach Beethovens 9. Sinfonie am Stück hören können, was auf Schallplatte nicht möglich war, ohne diese zwischendurch umzudrehen. Die Techniker*innen orientierten sich also an der längsten Fassung des Stückes und konzipierten die CD so, dass genau 74 Minuten darauf passen. Längere Werke und Konzeptalben mussten auf die Doppel-CD ausweichen. Und auch als David Bowie den fast 10 minütigen Song “Blackstar” veröffentlichte, gab es Gerüchte, dieser habe die 10-Minuten-Marke nur deshalb nicht überschritten, um bei iTunes als einzelner Song gekauft werden zu können, da längere Stücke nur mit dem kompletten Album zu haben sind.
Gibt es eine Grenze der Kunstfreiheit?
Die Kunstfreiheit ist eines der am stärksten geschützten Grundrechte in Deutschland und stellt eine wichtige Grundlage für die Arbeit von Kreativschaffenden und Content Creator*innen dar. Immer wieder gibt es Diskussionen um dieses Grundrecht und wo dessen mögliche Grenzen liegen bzw. ob es welche geben sollte. Zuletzt sehr prominent diskutiert wurden das Stück “Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt” von Danger Dan oder das Schmähgedicht gegen Erdogan von Jan Böhmermann. Was jedoch nicht unter die Kunstfreiheit fällt – das muss man so ehrlich sagen –, ist ein Recht auf faire Monetarisierung des kreativen Contents.
Spotify schränkt insofern nicht die Kunstfreiheit ein, da der Algorithmus zwar bestimmte Musik bevorzugt und zu einem Einheitsbrei in den Playlists sorgt, was nicht schön ist und die Monetarisierung erschwert, aber auf diesem Wege keine Inhalte verbietet oder zensiert. Vielmehr richtet sich die Kritik auf ein generelles Problem der Musikindustrie, zu deren Akteur*innen nun auch Spotify zählt und eben dieses Problem in den digitalen Raum und den Streaming-Sektor verlängert. Das macht es nicht weniger problematisch, jedoch scheint der Begriff der Kunstfreiheit hier etwas deplatziert zu sein.
Die Entwertung der Musik, wie sie von Spotify vorangetrieben werde, ist ebenfalls mit einem Fragezeichen zu versehen. In einem Beitrag des Deutschlandfunk weist der britische Kulturwissenschaftler David Hesmodhalgh darauf hin, dass laut psychologischer Studien der Großteil der Menschen Musik nur nebenbei konsumiere und sich i.d.R. auch nicht mehr daran erinnere, was überhaupt gehört wurde. Die Gruppe von Menschen, die Musik lieben und intensive Beziehungen zu ihr pflegen und Geld investieren, sei demnach sehr viel kleiner, als es sich dieser Teil und auch die Musiker*innen wünschen würden. Insofern ist hier auch danach zu fragen, ob der Algorithmus von Spotify nicht auch vom User*innen-Verhalten gelernt hat bzw. hier eine zyklische Kausalität vorliegt. Ob also der Algorithmus genau die Songs bevorzugt, die die Masse der User*innen tatsächlich hört, weil es ihnen eigentlich relativ egal ist, was sie hören und wenig Zeit in die Entscheidung stecken. Es sind demnach auch die User*innen, die einen Teil des Problems ausmachen. Das macht den Algorithmus nicht besser, ihn aber zumindest ökonomisch nachvollziehbar.
Die eigene Nische finden
Im digitalen Raum gibt es auch einige positive Beispiele jenseits der großen Streaming-Plattformen, wo Künstler*innen nicht nur wertgeschätzt, sondern von ihren Fans auch fair bezahlt werden. Mit Bandcamp haben wir ein solches Beispiel bereits vorgestellt, das sich gerade in der Pandemie für viele Künstler*innen als Segen herausgestellt hat. In den letzten 30 Tagen (Stand 27.10.21) wurden hier 15.9 Millionen Dollar für Musik und Merch ausgegeben, von denen ein sehr großer Teil bei den Artists verbleibt. Patreon wäre ein weiteres Beispiel, wo Fans Künstler*innen direkt unterstützen und exklusiven Content (nicht nur Musik) erhalten können, was z.B. von Judith Holofernes durchaus erfolgreich genutzt wird. Die wirklichen Liebhaber*innen von Musik und Kunst nutzen solche Nischenangebote und sind auch bereit, Künstler*innen fair für ihren Content zu bezahlen.
Es ist nicht leicht, den eigenen kreativen Content zu monetarisieren. Die Algorithmen von Spotify oder der anderen Unternehmen sind da sicherlich keine Hilfe. Aber sie verändern das Business nicht in dem Maße, wie es gerne behauptet wird. Das Major-Musikbusiness war schon immer irgendwie unfair. Z.B. wenn ein Major-Label einfach die eigenen Tonträger gekauft hat, um in die Charts und von da aus in die Hot-Rotation der Radiosender zu kommen, was wiederum zu noch mehr verkauften Tonträgern führte. Oder wenn ganze Tonträger exklusiv gesignt, aber niemals veröffentlicht werden, weil einem*r anderen, ähnlich klingenden Künstler*in der Vorrang gegeben wird. Hier ging es schon immer ums Business und nicht um die Musik. Die Streaming-Anbieter sind nur neue Akteure auf diesem Feld, die neue Regeln innerhalb der traditionellen Strukturen schreiben. Diese immer wieder zu kritisieren und auf die teils problematischen Strukturen der Creative Industries (die Musikbranche stellt hier ja keinen Einzelfall dar) hinzuweisen, ist enorm wichtig.
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